Julius Hüther
1881 Bad Cannstatt - 1954 München
Münchner Expressionismus der ersten Stunde
Einen so namhaften Kunsthändler wie Paul Cassirer abzuweisen - das fiel Julius Hüther letztlich nicht schwer. Auch wenn die Zusammenarbeit mit dem visionären Galeristen, der bereits den Impressionismus nach Deutschland geholt hatte, ein gutes Einkommen und große künstlerische Anerkennung versprach, wollte Hüther keine Konzessionen eingehen – weder in seiner Kunst noch in seinem Lebenswandel. Ein Umzug nach Berlin – fort von seinem schönen München – kam für ihn nicht in Frage. Als geselliger Bohemién fand man ihn auf Atelierfesten oder in seinem Schwabinger Stammlokal, umgeben von Schriftstellern, Dichtern und Künstlerkollegen. Mit eindringlicher Gestik sprach er dort voller Begeisterung von Bildern, die er gemalt hatte, oder von denen, die er noch zu malen beabsichtigte. In seinem Schaffen war Julius Hüther unermüdlich, „[…] ein rastloser Geist, der, wenn es ihm paßte, zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Pinsel und Farbkasten griff. […] Alles ihm Malenswerte hielt er spontan fest, egal auf welcher Unterlage: selbst Bettlaken oder Tischtücher waren vor seiner Arbeitslust nicht sicher. Oft malte er auf dem Boden, die Staffelei nutzte er wenig.“
Geboren wurde Julius Hüther im Jahr 1881 in Cannstatt bei Stuttgart. Bereits zwei Jahre nach seiner Geburt siedelte die Familie nach München über, wo er mit Karl Valentin (bürgerl. Karl Frey) zur Schule ging. Diese Freundschaft hielt ein Leben lang und ist in zahlreichen Darstellungen verewigt. Sein künstlerisches Talent wurde von seinen Eltern früh erkannt und gefördert. So studierte er ab 1900 bis 1905 an der Münchner Akademie der Schönen Künste unter Gabriel von Hackl und Ludwig von Löfftz. Anfänglich bestimmte der konservative Stil der Lehrer sein Schaffen, doch galt sein Interesse Künstlern wie Vincent van Gogh und Ferdinand Hodler und dem aufkeimenden Expressionismus. Schon bald fand er seine ganz eigene Formensprache, deren Fokus allein auf das Wesen des Dargestellten gerichtet ist. Unbedeutendes wurde hierbei konsequent abstrahiert. Seine Kompositionen sind vorwiegend großformatig angelegt – mit langen hochgewachsenen Figuren, einer kühlen, leuchtend-frischen Farbpalette und dünnem Farbauftrag. Die Protagonisten seiner Werke sind nicht selten – von den Bildrändern beschnitten – nahe an den Betrachter gerückt. Dadurch wirken sie Ihrer Umgebung entrückt und isoliert. Seinen Protagonisten kommt er dabei mit einer Eindringlichkeit nahe, die den flüchtigsten Empfindungen Darstellung verleiht. Seine Porträts sind tiefgründige „Seelenlandschaften“ frei von überladenem Pathos und Theatralik. Obschon für Hüther die Kunst als „Ausdruck einer schöpferischen Kraft“ nicht verstanden werden musste, wohnt seinen Bildern gleichwohl eine starke Aussagekraft inne. In seinem Schaffen verdeutlicht sich die Orientierungslosigkeit seiner Zeit, das verlorene Selbstverständnis im Umbruch von Kaiserreich zur Demokratie und die Isolation des Individuums in einer Welt, die sich beständig schneller und lauter dreht. Doch klingen in seinem Oeuvre gleichfalls auch optimistische Töne voller Lebenslust und Lebensfreude an – besonders in seinen bunten Blumenstillleben, den andächtigen Naturbeobachtungen oder den Motiven aus dem Münchner Milieu mit der Auer Dult, der Oktoberfestwiese: weite Zeltdächer, in die Höhe ragende Achterbahnkonstruktionen und wehende Karussells.
An alle Tätigkeiten trat Hüther mit einer kompromisslosen Konsequenz heran. Das führte mitunter zu abstrusen Situationen, die heute wundersame Anekdoten abgeben: In seiner Münchner Wohnung hatte Julius Hüther Besuch erhalten. Als dieser darauf hinwies, wie gefährlich eine solche Unterkunft im 3. Stock nach den vergangenen Bombennächten wäre und viel zu weit vom Keller entfernt, winkte der Künstler leichtfertig ab: vor dem Fenster stünde ein Kastanienbaum, in den er einfach hineinspringen würde und so schnellstens am Boden wäre. Seine Besucher, die einen Scherz vermuteten, lachten daraufhin laut auf. Dies hatte jedoch Hüthers Verdruss zur Folge. Kurzerhand stieß er das Fenster weit auf, nahm Anlauf und sprang. Er stürzte von Ast zu Ast bis er schließlich unten im Hof zu liegen kam. Seine Frau sah leichenblass hinunter, doch ihr Mann stand schon wieder, klopfte sich die Ärmel aus und stieg zufrieden die Treppe hoch. Bei einer solchen Entschlusskraft wundert es nicht, dass er einer Verlockung wie dem Angebot Cassirers so vehement widerstehen konnte. Julius Hüther starb im Jahr 1954 in München.
Franz Emanuel Gailer
Foto: Inge Lindemann, Julius Hüther 1881-1954, München 1989.